Mittwoch, 21. April 2010

Alltag (33): Erzählerische Freiheit

Das Märchen grausam sind, ist allgemein bekannt. Ich scheue mich noch nach wie vor unseren knapp zweihalbjährigen Sohn die Gute-Nacht-Geschichten in der Originalfassung zu erzählen, damit ich ihm nicht erklären muss, wer gerade warum gefressen, getötet oder misshandelt wird. Er hat eine bildreiche japanische Kinderbuch-Ausgabe von Rotkäppchen, anhand dessen ich ihm die Geschichte mit erzählerischer Freiheit wiedergebe:

Der Wolf, auf jedem zweiten Bild mit aufgerissenen Maul und erhobenen Krallen hinter dem Mädchen herläuft, will sie nur "erschrecken". Er kann auch deswegen in Großmutters Bett liegen, weil die Oma sich versteckt hat, nachdem sie sich so erschrocken hatte. Am Ende plumpst der Wolf in den Brunnen und muss dann schwimmen... - Das wird nicht dauerhaft funktionieren, aber zur Zeit hilft es.

Richtig kompliziert wurde es, als aus Sentimentalität ein Kinderbuch aus meinen Kindheitstagen bestellte, aus dem mir mein Großvater vorgelesen hatte: "Der kleine Häwelmann" Theodor Storm hat die Geschichte 1846 für seinen Sohn geschrieben und die Liebkosung "Häwelmann" ist niederdeutschen Ursprungs und steht für "Nervensäge". Es gibt das Faksimile der Originalausgabe von 1926 mit Bildern von Else Wenz-Viëtor - ein wunderschönes Buch und exakt so, wie ich es kannte.

Aber der Inhalt! So genau konnte ich mich daran nicht mehr erinnern und an manchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass bewusstseinserweiternde Drogen die Lektüre vereinfachen. Flugs habe ich alle Seiten einmal durchkopiert und den Rotstift angesetzt, damit wir die Geschichte in der zensierten Fassung besser vorlesen können. Mit Katzen, die "illuminieren" und Kleinkindern, die ins Meer gestürzt werden, weil sie frech waren, konnte ich nicht so viel anfangen. Ich finde diese Grade erzählerischer Freiheit sollte den Eltern zugestanden werden.

1 Kommentar:

pursemom hat gesagt…

Jawoll, recht hast Du! Ich finde auch die modifizierten Fassungen viel netter. Obwohl schwer erklaerbar ist, warum der Jaeger am Bauch des Wolfes rumnaeht...

Viel interessanter finde ich beim Haewelmann aber, wie er es schafft, kein Krampf im Bein zu bekommen, wo er es doch die ganze Zeit hoch haelt, damit der Mond in sein Segel blasen kann.